Reservate der Sehnsucht

21. August 1998 - 04. Oktober 1998 Ehemalige Unionbrauerei, Dortmund

Reservat: ... großes Freigehege für bedrohte Tierarten (DUDEN)

Utopien und Visionen einer schönen neuen Welt sind obsolet, geradezu verdächtig geworden. Die sozialen, ökonomischen und ökologischen Mißstände im "Global Village" scheinen vielmehr den Anlass zu geben, mit größtem massenmedialen Aufwand Verfall und Untergang heraufzubeschwören. Das befürchtete Desaster, die unspezifische Bedrohung, erstarrt zum "Phantom Zukunft" und läßt sich somit bequem auf unbestimmte Zeit nach vorne verschieben.
Im Diesseits hat die Freizeitgesellschaft dagegen gelernt, sich mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in den von ihr produzierten Mißständen einzurichten, abzuschotten und wohlzufühlen. Die großen Ideen einer besseren Welt weichen der Sorge um das private Glück, nach der die Welt und die Weltbilder ausgerichtet werden. Das "Interieur des Privatmanns" (Benjamin) ist längst über die eigenen vier Wände hinaus auf unzählige Reservate der Sehnsucht übertragen worden.

Dass sich aus Angst Kapital schlagen lässt, wissen Anbieter von Sicherheitstechnologien für Eigenheime – und neuerdings für ganze Vorstadtkomplexe – ebenso wie die Promotor von Extremsportarten, die Filmindustrie, Automobilhersteller oder die Tourismusbranche.
In den Sicherheitskästen der Entertainmentindustrie wird die Katastrophe vorweggenom-men, zum simulierten tödlichen Spiel, in dem der Held, der Konsument, garantiert und immer wieder unversehrt davonkommt. Fast immer, denn manchmal passieren Unfälle.
Die künstlichen Katastrophen der Vergnügungsparks sind von den durch Massenmedien regulierten Bildern "realen" Unglücks allerdings kaum noch unterscheidbar. Unfälle (diese heimtückischen Attentate auf die versicherte Welt) werden wie Fußballspiele per Computersimulation rekonstruiert und analysiert, um das Desaster mit jeder Wiederholung ungeschehener, die Effekte der Schau(er)lust leichter konsumierbar zu machen. Dazu gesellt sich neuerdings die Trauerlust. Eine Massenbewegung aus allzeit Bestürzten hat sich zum rnediengerechten Begräbnis-Hopping rekrutiert.

Sicherheit und Katastrophe sind dieselbe Seite der Medaille einer universellen und universalisierenden Kommerzialisierung von Alltag, Freizeit und Kultur. Die Welt ist in eine Vielzahl mehr oder weniger begehbarer Displays aufgefächert, durch die hindurch sie sich als solche erst vermittelt: als überschaubares Warenhaus, an dessen Vitrinen sich der kosmopolite Flaneur die Nase platt drückt. Zum Beispiel in der Fremde.
Fotografie, Film und Fernsehen bereiten schon im Vorfeld jeder potentiellen Reise das Ferne und Fremde für das Heimische und die (noch) Daheimgebliebenen szenisch auf. Abenteuer, Wildnis, Exotik: Abziehbilder, die das Ferne auf Stilleben festnageln, in denen sich nichts mehr rührt außer den daran wie an Schaufenstern vorbeiziehenden Touristen und Kamerateams.

Ziel der Fernreisen sind jene stets nachträglichen Displays, die sich mit den telematischen Fern-Bildern von zu Hause decken sollen - und wehe, es kommt etwas dazwischen. Das, was die Fremde verspricht, wofür sie steht und womit sie lockt, wird dort in streng überwachten, vollklimatisierten und mit jeglichem Luxus ausgestatteten Gehegen geboten, die das Außergewöhnliche mit dem Gewohnten in Einklang bringen. So entstehen ganze Kunstlandschaften, wie das von kalifornischen (!) Architekten und Designern entworfene Areal "Lost City" in Südafrika: ein künstlich angelegter Regenwald inmitten der Wüste, wo täglich um 12 Uhr die Apokalypse mit speienden Vulkanen und simulierten Erdbeben eingeläutet wird. Alles sorgsam abgeschirmt von der "unkalkulierbaren Wildnis" (in der womöglich etwas dazwischenkomrnen könnte) und deren lästigen Bewohnern, die lediglich als folkloristisches Fotomotiv oder in Form von Dienstleistung (die dann als "Gastfreundschaft" verhandelt wird) an sich herangelassen werden. Ob Regenwald, Südseeinsel oder Matterhorn: Die Erholung verheissenden Bilder der Urlaubsparadiese verhandeln Land als Interieur und Leute als Intarsie.

Auch das urbane Umfeld daheim wird zunehmend als ein trockenen Fusses passierbares Netzwerk von Bedürfniszonen angelegt: Shopping Malls mit angegliedertem AdventurePark, Messen und Museen, Spassbäder und Erlebnisgastronormen bieten das Exotische, das Abenteuer und die Wildnis direkt um die Ecke. Sie operieren und argumentieren mit denselben Versatzstücken der "Fremde" wie die Feriendörfer: ein bisschen Afrika hier, ein wenig Alpenromantik dort, dazwischen Altstadtsimulationen und Regionalkultur in homöopathischen Dosen. Alltag, Freizeit und Kultur werden unter den flächendeckenden Mechanismen der Kornmerzialisierung urbaner Lebens- und Handlungsräume zum austauschbaren Spektakel. Mit dem Spektakel argumentiert denn auch der Städtetourismus, der die Besucher nicht in historisch gewachsene Zentren führt, sondern sie zum Mittelpunkt eines Schauspiels, einer museal-futuristischen Melange aus monumentalen Sehenswürdigkeiten und von der Stange produzierten Events erklärt.
Die Refugien der postindustriellen Gesellschaft fordern die perrnanente Okkupation und Negation öffentlicher Räume durch private Angelegenheiten ein. Das Private wird zum Öffentlichen, das Öffentliche zum Privaten und beide zum kommerziellen Spielfeld des einen Codes: fun, fun. fun.


Die Ausstellung

Die Ausstellung "Reservate der Sehnsucht" geht den verschiedenen Optionen der "Einrichtung im Unbehagen" nach. Auf vier Etagen einer Dortmunder Industrieruine - der ehemaligen Unionbrauerei - wurden temporäre Displays - Poternkinsche Dörfer - installiert, in denen "Desaster" und "Easy Living" gleichermaßen zum Tragen kommen.

Ausgangspunkt der Ausstellung war eine der desolaten Etagen in der ehemaligen Unionbrauerei, eine in den Innenraum verkehrte, zerklüftete Landschaft, die mit ihren Trümmerschollen aus heruntergerissenen Zwischendecken und abgeschlagenen Kacheln an Caspar David Friedrichs Gemälde "Die gescheiterte Hoffnung" erinnerte. Inmitten dieses ebenso deprimierenden wie romantischen Schutthaufens wurde eine grüne Wiese, eine Gartenlandschaft mit Miniaturhügeln angelegt als Grundmotiv der modernen Reservate, die aus jeder "gescheiterten Hoffnung" eine profitable Tugend zu machen wissen. Jan-Peter E.R. Sonntag inszeniert dazu ein Tableau Vivant frei nach Edouard Manet, mit Schaukeln, Schmetterlingen und Picknickdecken. Diese Gesten der Idylle werden konterkariert durch Rodney Grahams "Vexation Island", ein Südseedrama in Technicolor, das paradiesische Zustände als endlosen Aufschub interpretiert.

Insgesamt umfasst die Ausstellung vier Etagen des Industriemonuments, in die unterschiedliche Stilleben kultureller Provenienz implantiert sind. So ist eines der eher intakten Segmente moderat zum musealen "White Cube" umgestaltet worden; ein weiteres Geschoss inszeniert archäologische Spurensicherung, die es durchaus auf die der Ruine eigene Faszination angelegt hat. Das imposante Turmgeschoss mit seinen Gewölben, Galerien und Stahlträgern wird schließlich selbst zum Exponat, sein exponierter Status durch eine raumumgreifende, beinah unsichtbare Soundinstallation noch überhöht. Die Funktionen von Ausstellungsraum und Ausstellungsexponat werden hier schlicht verkehrt.

Die räumlichen und künstlerischen Inszenierungen greifen in der gesamten Ausstellung mit verschiedener Gewichtung ineinander: Die Boxsäcke der Installation "Bodycheck" von FLATZ sind in unmittelbarer Nähe zu einem riesigen Wanddurchbruch im Gebäude plaziert. Man erkämpft sich einen gedoppelten Blick, zum einen auf das Panorama der Stadt Dortmund, zum anderen auf einen Bungeejumping-tauglichen Abgrund.

Die Zitat- und Kulissenhaftigkeit sowie der Zeigegestus der räumlichen Sets treten offen zu Tage, ihr Illusionismus bleibt fragwürdig und verführerisch zugleich. Diese beabsichtigte Schieflage schreibt sich in den Videoinstallationen, Fotoserien, Objekten und Installationen der KünstlerInnen fort. Mit Affirmation und Ironie, sensibler Einfühlung und kritischer Distanz gehen sie den postindustriellen Attitüden auf den Grund: dem Spektakel, dem Kult und der Kultivierung des Individuellen, den Mythen der Globalisierung und der Mobilisierung. Die kommerziellen Überformungen urbaner, landschaftlicher und sozialer Gefüge sind dabei ebenso Thema wie die Lebens- und Überlebensstrategien des einzelnen an den Rändern des Öffentlichen und Privaten.

Die Besucher betreten die Reservate der Sehnsucht durch das eigens eingerichtete Café Matta-Clark. Von hier aus gelangen sie über den Eingangskorridor, vorbei an ersten Videoinstallationen zum Aufzug. Vom Aufzugspersonal in Empfang genommen, fahren sie dann von Etage zu Etage in die verschiedenen Ausstellungsbereiche.

Ganz bewusst begibt sich die Ausstellung auf das vielschichtige Glatteis des Spektakels, handelt es sich dabei doch um ein Terrain, das auch dem Kunstbetrieb nicht allzu fremd ist: Documenta, Biennalen, Manifesta, Zentren für Medienkunst um nur die bekannten Spitzen des Eisbergs zu benennen. Die subtilen Mechanismen der Kommerzialisierung und Standardisierung persönlich/ öffentlicher Bedürfnislagen sind trickreich; glaubt man ihnen zu entkommen, ist man ihnen längst schon auf den Leim gegangen. Die Ausstellung liefert daher kein lückenlos abgeklärtes oder hehres Abgrenzungsprogramm gegen die Infiltrationen der Freizeitkultur, sondern setzt den Betrachter den Kosumenten - der Ambivalenz seiner eigenen Reservate der Sehnsucht aus.

Förderer und Kooperationspartner

Ein Projekt
des Kulturbüros Stadt Dortmund in Kooperation mit
hartware und der
Kultur Ruhr GmbH

KuratorInnen
Hans D. Christ, Iris Dressler

Assistenz
Vanessa Joan Müller

Technische Leitung
Hans D. Christ, Ute Schulze-Eyßing

Support
Kultur Ruhr GmbH
Stadt Dortmund
Ministerium für Arbeit und Soziales, Kultur und Sport des Landes NRW
Stadt Sparkasse Dortmund
Mondriaan Stichting
OCenW
Pro helvetia
ERCO
Minimax
Eurowings
Steigenberger Maxx Hotel
Brinkhoff's
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