nicht weit von der wirklichkeit entfernt
20. September 2002 - 20. November 2002 hartware medien kunst vereinJeder Vorabendkrimi lehrt uns, dass es gerade die kleinen, unscheinbaren Dinge sind, die im Lichte der kriminalistischen Aufklärung den entscheidenden Beweis liefern, um den Schuldigen zu überführen. Das Banale und Alltägliche erscheint, wenn man es erst einmal aus seinem vordergründigen Bedeutungszusammenhang herausgelöst und aus einer anderen Perspektive sowie in einem anderen Kontext betrachtet hat, als höchst verdächtig. Die Wahrheit aufzuspüren, oberstes Ziel eines jeden Kriminalinspektors, ist also eine Frage der Haltung, der Interpretation, der Lesweisen. Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, müssen in eine sie logisch verknüpfende, neue Ordnung gebracht werden, damit der Tathergang rekonstruierbar wird. Dass dem so ist, lässt allerdings auch den Rückschluss zu: Es hätte so, aber auch ganz anders sein können. Die Rekonstruktion von Verbrechen, ebenso wie von Geschichte, Identitäten oder Ereignissen, ist also immer schon mit deren Konstruktion – inklusive aller Irrtümer, Fehlleistungen und Vorurteilen – verknüpft.
Das Banale und Alltägliche sowie das Ungewöhnliche und Verdächtige sind die Ausgangsmotive der künstlerischen Arbeiten, die in der Ausstellung „ nicht weit von der wirklichkeit entfernt“ zu sehen sind – wobei hier permanent das Banale in das Ungewöhnliche und umgekehrt, das Ungewöhnliche oder gar Verdächtige in das Banale hineinspielt. Die Dinge – das sind hier zum Beispiel eine Kreuzfahrt, ein Cafébesuch, der Alltag von drei Nachbarinnen, ein Mordfall, ein Naturphänomen oder der Dialog zwischen Zwillingen – werden aus ihrem Zusammenhang gelöst und in eine andere Erzählung eingebettet. Dabei bemühen sich die KünstlerInnen jedoch keineswegs um eine lückenlose, eindeutige Re/Konstruktion von Geschichten, Identitäten und Ereignissen, sondern um das Aufwerfen von Ungereimtheiten. Ihre Erzählungen bewegen sich dabei nie weit von der Wirklichkeit entfernt, aber immer weit genug, um Zweifel und Widersprüche zu streuen.
Die Ausstellung zeigt Arbeiten von insgesamt neun KünstlerInnen aus Deutschland, Belgien, Schweden und den USA, darunter vier neue Werke, an deren Produktion der hartware medien kunst verein wesentlich beteiligt ist: „Ruhe im Schatten“ von Dagmar Keller und Martin Wittwer, „Stille/Landschaft“ von Jens Brand sowie „Border Patrol“ und „Position I und II“ von Bettina Lockemann.
Untersuchungsgegenstände – oder "Tatorte" – der KünstlerInnen sind zum Beispiel eine amerikanische Vorstadtsiedlung. Hier führen drei schwarze Frauen drei voneinander völlig unabhängige Leben, in deren Alltag uns die Videoinstallation „An Insiginificant Moment“ von Edgar Arcenaux Einblicke verschafft. Aus ungeklärten Gründen treffen die drei Frauen plötzlich aufeinander: Ein zugleich beiläufiger wie bedeutsamer, plausibler wie unglaubwürdiger Vorfall, der allerdings zu nichts zu führen scheint. Doch heißt es nicht auch, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im brasilianischen Urwald ein Unwetter in der Karibik auslösen könnte?
Roland Schappert beobachtet mit seiner Kamera Personen vor und hinter der Fensterfront eines Kölner Szenecafés. Immer wieder werden Passanten, deren Gesichter die Kamera nur unscharf wiedergibt, herausgegriffen und in Form phantombildhafter Zeichnungen genauer unter die Lupe genommen – und sogleich haftet ihnen die Aura des Verdächtigen an.
Dagmar Keller und Martin Wittwer wiederum beschäftigen sich in ihrer Videoinstallation „Ruhe im Schatten“ mit einem veritablen Mordfall, der sich in den 50er Jahren in einem kleinen Schweizer Alpendorf zugetragen hat. Hier geht es weniger darum, den bisher ungelösten Fall aufzuklären. Vielmehr wird in einer szenischen Umsetzung von Verhörprotokollen nachgezeichnet, wie sich die Dorfbewohner ihre „Sicht der Dinge“ zu Gunsten der Wahrung des inneren Dorffriedens zurechtgelegt haben.
Sprache und Bilder sind wesentliche Elemente unserer Verankerung in der Wirklichkeit. Ihre Gesetzmäßigkeiten werden in den Arbeiten von Gary Hill und Andreas Gedin überdehnt, demontiert und verkehrt. So läuft Gary Hills ca. 30 minütiger Film „Why do Things get in a Muddle? (Come on Petunia), der über die Beziehung von Ordnung und Unordnung räsoniert, rückwärts, wobei auch die DarstellerInnen rückwärts sprechen und agieren, so dass die Gesetze der Sprache und die Logik des Films zwar bedingt wiederhergestellt werden, jedoch zugleich auch erheblichen „Schaden“ nehmen. Andreas Gedin wiederum lässt eine Geschichte über Zwillinge von zwei identischen Personen sprechen, wobei jedes einzelne Wort gespalten wird.
Ferner untersuchen die KünstlerInnen der Ausstellung die spezifischen Funktionsweisen unterschiedlicher Bildsysteme – Kartografie, Fotografie, Film, Handzeichnung, Webcamaufnahme – und deren Bezug zur Wirklichkeit. So zeigen beispielsweise Webcambilder zwar selten etwas interessantes oder aufschlussreiches, erfreuen sich jedoch großer Beliebtheit, einzig und allein wegen ihres Charakters der Liveübertragung. Darüber hinaus geht es um die Frage der Übertragbarkeit zwischen Bildsystemen: Was kommt hinzu, was geht verloren wenn die Handzeichnung im Videobild (Schappert), das Video als Quicktimemovie (François), die Webcamaufnahme als Computerprint (Lockemann) und das Bühneszenario in einer Videoprojektion (Keller/Wittwer) gezeigt wird? Die Re/Konstruktion von Wirklichkeit wird also als ein dezidiert medienspezifisches Anliegen verhandelt.
Die Ausstellung wird ferner vom 18. – 20. Oktober von dem Film- und Vortragsprogramm Was bisher geschah begleitet, dass sich mit der Re/Konstruktion von Erinnerung befasst.
Förderer und Kooperationspartner
Credits Veranstalter
medien_kunst_netz dortmund
> hartware > Museum am Ostwall > Kulturbüro Stadt Dortmund
KuratorInnen Ausstellung
Iris Dressler, Hans D. Christ
KuratorInnen Filmprogramm
Gudrun Sommer, Karsten Stempel
Assistenz
Tabea Sieben
Technische Leitung
Hans D. Christ, Uwe Gorski
Support Ausstellung
Kulturbüro Stadt Dortmund
Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW
Courtesy
Die KünstlerInnen; The Netherland Media Art Institute Montevideo/TBA, Amsterdam; iMAL, Magic Media, Brüssel
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